»Ein Gott der Angst« (2024)

Dawkins: Ich frage mich nur, welches. Man könnte zum Beispiel behaupten, dass ein Streichquartett von Schubert in irgendeinem Sinne wahr ist. Aber ich wünsche mir nicht, diese Aussage verteidigen zu müssen. Mag sein, dass es sich hier um eine andere Art von Wahrheit handelt - schließlich rührt uns das Streichquartett zu Tränen. Aber im Grunde handelt es sich hier nur um ein Spiel mit Worten.

SPIEGEL: Die drei vielleicht fundamentalsten aller Fragen hat die Wissenschaft bisher nicht beantworten können: die nach dem Ursprung der Materie, des Lebens und des Bewusstseins. Alle drei befassen sich mit Momenten des Schöpfens: Erst war nichts, plötzlich ist da etwas. Vielleicht löst die Wissenschaft diese Fragen nie?

Dawkins: Ich bezweifle, dass Wissenschaft prinzipiell nicht dazu in der Lage sein soll, solche Sprünge zu ergründen. Ich bin auch gar nicht sicher, ob es wirklich jedes Mal ein solcher Sprung war. Nehmen wir das Bewusstsein: Viele Leute glauben, dass Regenwürmer ein winziges bisschen Bewusstsein haben, Hunde sehr viel mehr und wir Menschen am meisten.

SPIEGEL: Und der Ursprung des Lebens?

Dawkins: Das Schlüsselereignis war hier das Erscheinen eines sich selbst replizierenden Moleküls. Aber die Erde sah vor und nach diesem Ereignis nicht sehr verschieden aus: Vorher war das Meer ein kochender Kessel von Molekülen; danach ein kochender Kessel von Molekülen, von denen ein paar sich selbst replizierten. Niemand hätte damals erkennen können, dass in diesem Moment die Saat komplexen Lebens gesät worden war. Aber die kniffligste Ihrer drei Fragen ist die nach dem Bewusstsein. Da ist es schon schwierig, überhaupt das Wesen des Problems zu definieren.

SPIEGEL: Aber genau diese Lücke lässt sich prima mit Gott füllen. Der klassische Vorwurf lautet doch, die Wissenschaft gebe keine Antwort auf die entscheidenden Frage: Wer und warum bin ich?

Dawkins: Wenn das eine Theoriegebäude mir etwas nicht erklären kann, bedeutet dies ja nicht, dass es deswegen das andere kann. Das ist völlig unlogisch!

SPIEGEL: Wenn, wie Sie sagen, die Religion so wenige überzeugende Antworten gibt, warum findet sie dann so viele Anhänger? Hat die Evolution beim hom*o sapiens ein Bedürfnis nach Spiritualität begünstigt?

Dawkins: Wie viele Biologen favorisiere ich die Idee, dass die Selektion gar nicht die Religiosität als solche begünstigt. Sie könnte auch das Nebenprodukt einer anderen bevorzugten Eigenschaft sein.

SPIEGEL: Wie sollen wir uns das vorstellen?

Dawkins: Religion könnte zum Beispiel ein Nebenprodukt der Neigung von Kindern sein, ihren Eltern zu gehorchen. Der Überlebensvorteil ist leicht zu erkennen: In der Wildnis lebte ein aufmüpfiges Kind gefährlich, weil es die Warnungen der Eltern ignorierte. Deshalb begünstigte die Selektion wahrscheinlich die Unterordnung unter Autoritäten. Ein Gehirn aber, das glaubt, was Autoritäten sagen, kann nicht mehr unterscheiden zwischen dem guten Rat, nachts nicht in den Wald zu gehen, weil da ein Tiger lauern könnte, und dem törichten Befehl, eine Ziege zu opfern, um den Regen herbeizurufen.

SPIEGEL: Diese Theorie hat aber gar nichts Religionsspezifisches. Damit können Sie die Verbreitung von jeder Art von Unsinn erklären ...

Dawkins: ... was ja auch stimmt. Nehmen Sie den gesamten Aberglauben: »Du darfst nicht unter einer Leiter durchgehen« oder »Schwarze Katzen bringen Unglück«. Ideen breiten sich aus wie Viren.

SPIEGEL: Und was entscheidet darüber, welches Virus erfolgreich ist?

Dawkins: Ein Virus, das sagt: »Du wirst deinen eigenen Tod überleben«, ist zum Beispiel sehr attraktiv. Denn es gibt viele Leute, die Angst vor dem Tod haben, also mögen sie die Idee. Oder nehmen Sie die Idee, dass Glaube eine Tugend und dass Glaube wider alle Vernunft sogar noch tugendhafter sei. Es ist leicht einzusehen, welch einen Überlebensvorteil ein solches Virus hat.

SPIEGEL: Der Glaube ist nur ein Aspekt der Religion. Für wie wichtig halten Sie die anderen: Tradition und Ritual?

Dawkins: Die meisten Menschen scheinen Ritualen einen gewissen Wert beizumessen, das stimmt. Auch Atheisten heben ihr

Glas, um dem frischvermählten Paar zuzuprosten. Und ich muss zugeben, dass ich mich bei einem formellen Dinner, wenn jeder Smoking und Fliege trägt, schon ein bisschen gestört fühle, wenn da jemand mit Jeans und Pulli auftaucht.

SPIEGEL: Feiern Sie Weihnachten?

Dawkins: Ja, in dem Sinn, dass wir die Kinder beschenken.

SPIEGEL: Haben Sie Ihre Hochzeit in der Kirche gefeiert?

Dawkins(lacht): Beim ersten der drei Male, ja. Damals haben wir gar nicht über andere Möglichkeiten nachgedacht. Die Gesellschaft hat das damals irgendwie erwartet.

SPIEGEL: Könnte es sein, dass die Rituale das Wichtige an einer Religion sind - nicht der Glaube?

Dawkins: Wenn Sie recht haben, meinetwegen. Rituale greife ich gar nicht an. Ich interessiere mich für solche Gläubige, die zum Beispiel meinen, Gott hätte ihnen gesagt, sie sollten in den Irak einmarschieren, Abtreibungskliniken sprengen oder Stammzellforschung verhindern.

SPIEGEL: »Wenn Gott nicht existierte, wäre alles erlaubt«, meinte Dostojewski. Wo wären wir ohne die christliche Ethik?

Dawkins: Unsere heutige Ethik haben wir doch gar nicht aus der Bibel. Unsere Werte - Gleichberechtigung zum Beispiel oder das Verbot von Sklaverei und Folter - haben der Schrift nichts zu verdanken. Sie sind entstanden in einem liberalen Konsens, den wir mit allen Menschen teilen, die wir zivilisiert nennen. Wenn wir unsere Ethik wirklich aus der heiligen Schrift bezögen, wäre die Welt ein entsetzlicher Ort. Wie das Afghanistan unter den Taliban.

SPIEGEL: Was ist mit der Bergpredigt?

Dawkins: Auf die beziehen Sie sich nur, weil die Bergpredigt mit Ihrem modernen liberalen Konsens übereinstimmt, während das 5. Buch Mose dies nicht tut - es sagt uns nämlich, dass wir Fremdgängerinnen zu Tode steinigen sollen.

SPIEGEL: Jeder pickt sich also das aus der Bibel heraus, was ihm passt?

Dawkins: Genau. Wir würden uns wahrscheinlich schnell darauf einigen können,

dass »Du sollst nicht töten« ein gutes Gebot ist, »Du sollst dir kein Bildnis von mir machen« hingegen ein ziemlich dämliches.

SPIEGEL: Aber vielleicht eignet sich der Glaube an einen Gott gut, um die Normen der jeweiligen Gesellschaft durchzusetzen?

Dawkins: Mit Bestechung und Angst, ja. Du bist ein guter Mensch, weil du Angst hast, dass Gott dich sonst bestraft. Falls das wahr wäre, falls die Menschen also nur aus Gottesfurcht gut wären, schiene mir das ziemlich unwürdig. Ich meine, würden Sie mit jemandem befreundet sein wollen, der nur aus Angst vor Gott gut ist?

SPIEGEL: Würden Sie die Religion am liebsten verbieten?

Dawkins: Nein. Keine Art von Denkverbot könnte jemals Bestandteil meines Weltbilds sein. Ich möchte einfach nur das Bewusstsein schärfen.

SPIEGEL: Bisher scheinen Sie eher brachial gewirkt zu haben. Selbst manche Ihrer Mitstreiter im Kampf gegen die Wissenschaftsfeindlichkeit werfen Ihnen vor, Sie erweckten mit Ihrem Buch den Eindruck, dass der Atheismus genauso intolerant ist, wie die es sind, gegen die er sich wendet.

Dawkins: Es gibt da eine Doppelmoral. Wenn Sie sagen »George Bush ist ein Idiot«, wird Ihnen manch einer zustimmen. Wenn Sie aber sagen »Religion ist idiotisch«, hört sich das sofort scharf, schrill, eifernd an. Wenn Sie die Tonlage in meinem Buch mal vergleichen mit der von Theaterkritiken oder politischen Kommentaren, werden Sie feststellen, dass meine Sprache eher milde und zahm daherkommt.

SPIEGEL: Mindestens fünf weitere Autoren haben in der letzten Zeit Streitschriften gegen die Religion verfasst. Wie viel, glauben Sie, lässt sich damit bewirken?

Dawkins: Die Atheisten waren viel zu lange nett. Jetzt erheben wir die Stimme - und siehe da, unsere Bücher sind gewaltige Bestseller. Mein Buch hat sich jetzt schon, als Hardcover, mehr als eine Million Mal verkauft ...

SPIEGEL: ...vielleicht haben es manche nur gekauft, um es zu verbrennen.

Dawkins (lacht): Meinetwegen. Ich sehe natürlich, dass ich wahrscheinlich vor allem meiner Gemeinde predige. Aber ich sehe auch, dass diese Gemeinde viel größer ist, als alle dachten. Selbst wenn es nicht gelingt, die Gläubigen von ihrem Glauben abzubringen, bewegen wir vielleicht Leute dazu, von verstecktem zu unverblümtem Atheismus zu konvertieren.

SPIEGEL: Sehen Sie sich als Heerführer im Kampf gegen die Religion?

Dawkins: Können Sie sich das vorstellen? Ich als Anführer?

SPIEGEL: Vielleicht nicht der diplomatischste, aber immerhin gemäß Ihrem Spitznamen: »Darwins Rottweiler«?

Dawkins: Rottweiler sind sehr charmante, süße Hunde.

SPIEGEL: Mr Dawkins, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

* Richard Dawkins: »Der Gotteswahn«. Ullstein, Berlin; 576 Seiten; 22,90 Euro. * Links: betende Juden an der Klagemauer in Jerusalem; Mitte: Selbstgeißelung von Schiiten am islamischen Feiertag Aschura in Quetta, Pakistan; rechts: dreitägiger Massengottesdienst in New York. * Mit den Redakteuren Rafaela von Bredow und Johann Grolle in Dawkins' Haus in Oxford.

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